Exoten

Peter Lodermeyer
Abschrift der frei gehaltenen Eröffnungsrede zur Ausstellung im Kunstverein Wolfenbüttel (Deutsch)

Meine Damen und Herren, ich darf Sie ganz herzlich begrüßen zu der Ausstellung von Maria und Natalia Petschanikov mit dem Titel "Exoten". Vielleicht stolpern Sie - ich hoffe es fast - über diesen Titel. Exoten stellt man sich ja ein wenig anders vor als das, was uns die Gemälde hier zu sehen geben. Wenn Sie sich umschauen, werden Sie gestempelte Eier aus dem Supermarkt sehen, Rosenkohl, Blaubeeren, ein abgepacktes Hähnchen in der Folie, zahlreiche Kühe, einen Elch... Was ist daran exotisch? Der Begriff des Exotischen - das wäre vielleicht eine erste, ganz vage Annäherung an das Thema dieser Ausstellung - hat womöglich in überhaupt seine Bedeutung verloren. Gibt es denn noch Exotik in einer globalisierten Welt, in der auch die fernsten Länder touristisch erschlossen sind und uns selbst die fremdesten Begebenheiten und entlegensten Geschehnisse in Echtzeit via Fernsehen und Internet ins Haus kommen? Das wäre vielleicht die Botschaft dieser Bilder, dass das Exotische nicht in der Ferne zu suchen ist, sondern uns in Wahrheit viel näher ist, als wir gewöhnlich denken, dass es sogar im Alltag anzutreffen ist, wenn wir einen genaueren Blick darauf werfen.
Eine zweite Sache könnte uns irritieren, und zwar die Tatsache, dass wir hier zwar Malerei vorfinden, dass wir es aber bei Maria und Natalia Petschatnikov nicht mit Malerinnen zu tun haben. "Malerei kommt hier voll zum Zug", wie eben Herr Monkiewicz in seiner Begrüßung zu Recht gesagt hat, und zwar Malerei in einer ganz klassischen Form: als figurative Gemälde in Öl auf Nessel, beziehungsweise, ein bisschen weniger klassisch, in Öl auf Holz bei diesen mit dem Laser geschnittenen Bodenobjekten, die in den Räumen verteilt sind. Die Malerei ist also sehr präsent, aber trotzdem - und es ist wichtig, das zu betonen - verstehen sich die beiden Künstlerinnen ganz ausdrücklich nicht als Malerinnen. Sondern sie sehen sich als Installationskünstlerinnen, wobei die Malerei zwar ein wichtiges, aber nicht unbedingt notwendiges Element und Werkzeug ihrer Arbeit ist oder sein kann, denn es gibt zahlreiche Installationen der beiden, die völlig ohne Malerei auskommen. Die beiden Künstlerinnen möchten auch nicht, dass ihre Gemälde ausschließlich im Malereikontext verortet und im Malereidiskurs diskutiert werden, denn sie legen Wert darauf, dass der installative Aspekt immer mit gesehen wird, auch bei ihren Bildern hier im Kunstverein Wolfenbüttel. Es geht ihnen überhaupt nicht darum, mit einen unverwechselbaren persönlichen Duktus in die Malerei hineinzubringen. Sie sehen ja, wenn Sie näher die Bilder herangehen, dass sie relativ kühl gemalt sind, eine sachliche Atmosphäre und eine gegenständliche Lesbarkeit vermitteln, auf die es hier primär ankommt.
Der bekannte Kunstkritiker Klaus Honnef hat vor einiger Zeit in einem polemischen Artikel beklagt, dass viele junge Künstler heute kein Geschichtsbewusstsein mehr mitbringen, keinen Bezug zur Kunstgeschichte haben, und daher, wie er sagte, Alberto Giacometti für einen Stürmer des 1. FC Köln halten. Diese bissige Bemerkung trifft ganz gewiss nicht auf Maria und Natalia Petschanikov zu, denn diese beiden sind sich dessen sehr bewusst, dass auch heutige Bildvorstellungen unvermeidlich einen geschichtlichen Hintergrund haben, dass, egal was wir uns an Bildern vorstellen, was wir an Bildern produzieren und konsumieren, diese immer kommunizieren mit dem, was zuvor schon da war. Bilder fallen nicht vom Himmel, sie haben unvermeidlich ihre geschichtlichen Wurzeln, Vergleichbarkeiten oder Vorläufer. Das ist eine Einsicht, die auch in dieser Ausstellung deutlich wird. Die Gemälde kann man nämlich einer traditionsreichen Gattung zuordnen, dem Stillleben. Die Stilllebenmalerei entwickelte sich im Wesentlichen im 15. und 16. Jahrhundert und hat dann im 17. Jahrhundert, insbesondere in den Niederlanden, aber auch in anderen Ländern, eine wahre Blütezeit erlebt. Die Kenntnis der Gattungsgeschichte des Stilllebens ist für die beiden Künstlerinnen enorm wichtig, sie nehmen bewusst Bezug darauf, spielen mit traditionellen Motiven, bringen Anspielungen und Allusionen in ihre Arbeit ein. Es ist ja auch vergnüglich, diese Bezüge zu entdecken, die Verweise aufzuspüren und die motivischen Anspielungen zurückzuverfolgen. Motive wie Fische, Eier, überhaupt Lebensmittel, kennen wir aus ungezählten holländischen Stillleben, wie sie in allen großen Museen hängen. Im Raum nebenan befindet sich eine Arbeit, auf der Rosen, eine Zitrone und Weintrauben zu sehen sind - unvermeidlich denkt man da an die Stilllebentradition insbesondere in Holland oder Flandern. Die mehr oder weniger traditionellen Motive werden kombiniert mit ganz alltäglichen Gegenständen, die heute natürlich andere sind als im 17. Jahrhundert. Sie sehen hier auf allen Gemälden typische zeitgenössische Gegenstände: Computer, Scanner, Drucker, eine Rolle mit Tesa-Klebeband, CDs usw.
Die stilllebenhafte Verwendung und Darstellung von Gegenständen ist den beiden Künstlerinnen enorm wichtig, weil die Dinge ja nie einfach für sich stehen, sondern unvermeidlich eine ganze Geschichte erzählen. Das gilt ganz allgemein für ihre Arbeit, wo es sehr wenige Darstellungen von Personen gibt und auf Menschen eigentlich nur indirekt verwiesen wird durch die Gegenstände und Orte. Jedes Ding, so banal es auch auf den ersten Blick sein mag, ist gewissermaßen umgeben von einem reichen kulturellen Kontext, aufgeladen mit einem ganzen Kranz von Konnotationen und Bedeutungen. Um noch einmal auf die Tradition zurückzukommen: Wenn Sie an ein Stillleben des 17. Jahrhunderts denken, auf denen Zitrusfrüchte zu sehen sind - diese waren damals wirklich noch etwas Exotisches, sie wurden aus China importierte Kostbarkeiten, die sich nicht jedermann leisten konnte -, dann erzählen solche Bilder sehr viel über die damalige Gesellschaft in der ersten Phase der Globalisierung mit ihrem Fernhandel, mit den Globen und Landkarten, mit der Entdeckung und Eroberung bis dato unbekannter Weltgegenden. Diese Bilder berichten etwas über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, über den Alltag in Holland vor 400 Jahren. Und genau so ist es hier bei Maria und Natalia Petschatnikov: Hier werden Dinge gezeigt, die ganz typisch sind für unseren Alltag, für unsere Zeit, Gegenstände, die irgendwann auch genau datiert und identifiziert werden können und als typische Erscheinungen unserer Epoche gelten werden, so wie uns die Prunkpokale oder das importierte chinesische Porzellan typisch erscheinen für das 17. Jahrhundert. Dass zum Beispiel Tomaten oder Hähnchen in Plastikverpackungen durch halb Europa transportiert werden, bevor sie gekauft und verzehrt werden, wird als Merkwürdigkeit irgendwann unserer Zeit mit ihren spezifischen kulturellen und ökonomischen Bedingungen zugeordnet werden. Die Computer und das Computerzubehör auf diesen Bildern wird in 20 oder 30 Jahren ohne jeden Zweifel antik aussehen, dann wird das Design mit Sicherheit ein ganz anderes sein und man wird das, was Sie hier sehen, zeitlich genau bestimmen können als „frühes 21. Jahrhundert“. Noch einmal: Gegenstände sind immer aufgeladen mit Geschichte, mit kulturellen Bedeutungen. Das ist etwas, was Maria und Natalia Petschatnikov enorm fasziniert, weshalb sie immer wieder, auch in anderen Installationen und Gemälden als den hier gezeigten, Objekte und Fundstücke aus dem Alltag verwenden.
Ganz wichtig ist nun aber, dass die beiden Künstlerinnen es nicht beim Zitieren oder der Neuinterpretation der Gattung Stillleben belassen. Sie gehen ja einen wichtigen Schritt darüber hinaus. In allen Bildern hier, das sehen Sie auf den ersten Blick, sind Tiere zu erkennen, Wölfe, Kühe, Elche, Enten, und diese Tiere bringen ein anderes Moment, ein narratives und zugleich surreales oder irreales Element in die Bilder hinein. Ich muss hier ganz kurz darauf eingehen, wie die beiden Künstlerinnen arbeiten, wenn sie solche Bilder machen. Bei allen Gemälden in dieser Ausstellung bildet ein Schreibtisch die Bühne, auf der sich das Bildgeschehen ereignet. Es ist der reale Schreibtisch der beiden Künstlerinnen, der in ihrem Atelier in Berlin steht. Der Schreibtisch ist ein Stück der Alltagsrealität, zugleich auch die Verbindung zur Welt, denn hier steht der Computer, mit dessen Hilfe man täglich kommuniziert, Kontakte unterhält, Informationen einholt usw. Das ist die alltägliche Arbeitssphäre, und auf dieser Bühne arrangieren Maria und Natalia Petschatnikov ihre Szenen, stellen alle möglichen Lebensmittel dort ab, quasi einen Rest domestizierter und mundgerecht zugerichteter Natur in unserer technisierten Arbeitswelt. Den Stilllebenarrangements geben sie dann äußerst realistische Kunststofftiere bei, wie man sie in jedem besseren Spielzeugladen kaufen kann. Der nächste Schritt für die Künstlerinnen besteht darin, dass sie diese Situationen fotografieren und diejenigen Fotografien auswählen, die von der Perspektive, von der Komposition her am besten geeignet sind, in ein größeres Format und vor allem in Malerei übersetzt zu werden. An den größeren Gemälden arbeiten die beiden dann meist gemeinsam, Kleinformate werden unter Umständen von einer Künstlerin alleine ausgeführt.
Ich habe mich lange gefragt - und vielleicht fragen Sie sich das auch, wenn Sie hier etwas über die Bildgenese erfahren -, warum es denn überhaupt notwendig ist, die Fotografie in Malerei zu übertragen. Wenn die Fotos großformatig ausgedruckt an den Wänden hingen, was würde da fehlen, wären es nicht dieselben Inhalte? Ich bin überzeugt, dass es dann eine völlig andere Bildaussage wäre, weil die Transformation von der Fotografie in Malerei etwas bewirkt und verändert, was für die Bilder unverzichtbar ist. Wenn Sie sich zum Beispiel das Motiv des Wolfes anschauen, das sich wie ein Leitmotiv durch die Ausstellung zieht: gemalt ist es kein Spielzeugtier mehr, gemalt ist es schlicht: ein Wolf. Auf einem Foto wäre er immer noch erkennbar als das, was er ist, als kleines, harmloses Objekt. Durch die Transformation in die Malerei geschieht etwas mit dem Bildmotiv und lässt es überspringen in eine andere Bildwirklichkeit. Plötzlich wird aus einem Arrangement auf einem Schreibtisch eine Art Landschaft, in der etwas geschieht oder ein Geschehen bevorsteht. Schauen Sie auf diesen Wolf, wie er ganz klassisch den Kopf ins Bild hineindreht, so dass er zu einer Stellvertreterfigur des Betrachters wird; er zieht unseren Blick in das Bild hinein, in diese seltsame Landschaft, wo es riesenhafte Eier gibt und eine Computermaus, die den Eiern in Form und Farbe schon so ähnlich ist, dass man den Eindruck hat, das eine könnte sich jeden Moment in das andere verwandeln - und plötzlich bekommt das Bild eine surreale, märchenhafte Atmosphäre. Diese wirkt sofort und unvermeidlich auf die Fantasie des Betrachters ein und bringt ihn dazu, sich in der Vorstellung in dem Bild zu bewegen und es in seinen Gedanken erzählerisch auszudeuten und weiterzuführen. Dass dies möglich ist, hat mit der Malerei zu tun, denn auf der Ebene der Fotografie wäre dieser Umschlagpunkt zwischen dem realen Stilllebenarrangement auf dem Schreibtisch und der mit Handlung oder mit Handlungsmöglichkeiten belebten Vorstellung so gar nicht möglich.
Ich habe vorhin den Wolf erwähnt - der Wolf ist uns allen natürlich auch als Märchenfigur vertraut, und das ist sicher eine Assoziation, die sich sofort meldet, wenn wir uns diese Bilder betrachten, „der große böse Wolf“ usw. Oder wir können an die Fabeln denken, in denen immer wieder Tiere als sprechende Protagonisten auftreten. Bildtitel wie „Die Kühe und die Blaubeeren“ oder „Der Elch und der Feldsalat“ klingen wie ironische Anspielungen auf die Literaturgattung der Tierfabel. Märchen und Fabel werden durch die Gemälde als kulturgeschichtlicher Hintergrund präsent gehalten oder, besser gesagt: in Erinnerung gerufen. Aber selbstverständlich werden hier keine bekannten Märchen und Fabeln erzählt, es wird nichts illustriert, was irgendwo sonst bereits zu finden wäre. Es bleibt bei den Anspielungen, es werden Situationen nur angedeutet, voller Humor und voller Ironie natürlich. Sie sehen hier zum Beispiel den Wolf, triumphierend auf seinem Beutetier stehend, einem abgepackten Hähnchen, das jedoch um ein Vielfaches größer ist als das Raubtier, eine Szene wie aus Gullivers Reisen.
Die Vorstellungslandschaften, die sich durch die Hinzufügung der Spielzeugtiere in die Stilllebensituation ergeben, werden hier im Kunstverein, soweit das in einer Rauminstallation möglich ist, in den realen Raum hinein erweitert. Wenn Sie durch die drei Ausstellugsräume schlendern, werden sie unversehens Teil des Tableaus und können sich in dieser Fantasielandschaft bewegen. Für die Installationskunst ist natürlich die Einbeziehung des realen Raums enorm wichtig. Dies geschieht hier auf eine sehr originelle Weise durch die gemalte Elektroinstallation: Sie können das Kabel zurückverfolgen bis zur Steckdose im hinteren Raum. Sie sehen ja auch jede Menge lose Kabel und Stecker auf den Bildern, es scheint als könnten die elektronischen Geräte an diese gemalten Kabel, die hinter der Wandverkleidung verschwinden, angeschlossen werden, als könnte die reale Elektroinstallation dieses Raums die Bilder sozusagen energetisch aktivieren. Auf originelle Weise wird so ein direkter Bezug zwischen den Bildern und dem Raum hergestellt.
Was sind nun die Exoten auf diesen Bildern? Ich habe immer noch keine eindeutige Antwort. Sind es die Tiere? Tiere sind ohnehin immer etwas Fremdes für uns, Wesen, die wir nie vollständig verstehen. Wie die französische Philosophin Françoise Armengaud einmal gesagt hat: Tiere sind das Andere des Menschen. Sind nicht auch die Elektrogeräte exotisch, die wir alle kennen, fast täglich benutzen und die wir doch, zumindest die meisten von uns, überhaupt nicht verstehen? Wir sind bereits so an sie gewöhnt, dass wir uns nicht mehr bewusst sind, dass sie uns etwas ermöglichen, was vor wenigen Jahrzehnte noch reine Science-Fiction war, zum Beispiel die weltweite Kommunikation in Echtzeit per Internet. Und natürlich sind auch Künstler und Künstlerinnen Exoten im besten Sinne des Wortes, weil es ihnen immer wieder gelingt, einen anderen Blick auf die Alltagswelt zu werfen und Dinge zu entdecken, die uns normalerweise entgehen. Im Falle von Maria und Natalia Petschatnikov mag es damit zusammenhängen, dass sie an kulturelle Perspektivwechsel gewöhnt sind: Sie sind in der damaligen Sowjetunion aufgewachsen, studiert haben sie in den USA, seit 10 Jahren leben sie in Deutschland und zwischendurch haben sie zahlreiche Arbeitsaufenthalte in unterschiedlichsten Ländern absolviert. Die Dinge des Alltags anders zu sehen, mit einem frischen, neugierigen humorvollen Blick, gelingt in den Arbeiten der beiden Künstlerinnen auf eine vielschichtige, künstlerisch anspruchsvolle Weise und zugleich mit einer guten Portion Humor. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit der Ausstellung und bedanke mich für’s Zuhören.
Peter Lodermeyer